Gipfelsturm: Boris Herrmann erster Deutscher Vendée-Finisher
Es gibt sie: Bilder, die Geschichte erzählen. Man muss sie nur sprechen lassen. Boris Herrmann lässt sie sprechen. Es ist der 28. Januar 2021, kurz nach 11 Uhr, als der 39-jährige Hamburger vor der französischen Atlantikküste zwei Handfackeln zündet, sich auf den Bug seiner Yacht „Seaexplorer“ stellt und ein weithin sichtbares Signal in die Welt sendet.
Umschwirrt von einer Flotte an Begleitbooten, die die graue See vor Les Sables d‘Olonne zerfurchen, überquert er schließlich um 11.19 Uhr die Ziellinie der Vendée Globe. Ein historischer Moment: Nach 80 Tagen, 20 Stunden, 59 Minuten und 45 Sekunden auf See ist Boris Herrmann der erste Deutsche, der das Abenteuer dieser Weltregatta – allein und nonstop – erfolgreich beendet hat. 20 Jahre hat er auf dieses Ereignis hingearbeitet, jetzt kann er feiern.
Vergessen ist die Einsamkeit der vergangenen zweieinhalb Monate, vergessen sind die Strapazen, die Entbehrungen, die Schreckmomente. Nun kann er die Schäden an seinem Boot ignorieren, den abgebrochenen Sprietbaum, den zerfledderten Bugkorb, den Steuerbord-Flügel, der nur noch am Rumpf schlackert: Mahnende Zeugnisse der Gratwanderung, die die Solosegler bei diesem Meeresmarathon zu meistern haben. Nur 14 Stunden zuvor hätte alles dahin sein können, zerschellt an einem Fischerboot. Doch Boris Herrmann übersteht die Kollision in der letzten Renn-Nacht, als er 80 Seemeilen vor dem Ziel im Hochgeschwindigkeitsmodus in den fischenden Trawler kracht. Er sichert Rigg und Boot, humpelt mit seiner Yacht bis nach Les Sables d’Olonne. Am Ende ist es berechnet der fünfte Platz. Das Notsignal kann er in dieser Nacht in der Kiste lassen. Nun kann er es zünden. Er ist im Ziel; am Ziel seiner Träume. Die Fackeln: Zeichen des Ankommens, Symbol des Triumphes. Beckers Faust – Herrmanns Fackel!
Vielleicht ist es Boris Herrmanns größter Verdienst, dass er die Vendée Globe, diese französische Institution eines Segelsportereignisses, aus der Grande Nation herausgeholt, in die Welt hinausgetragen und bekanntgemacht hat. Bisher hat immer ein Franzose gewonnen – mit Yannick Bestaven auch diesmal. Zwei Drittel aller Starter*innen der vergangenen drei Jahrzehnte kommen aus Frankreich. Immerhin Ellen MacArthur, Mike Golding und Alex Thomson haben in der Vergangenheit für britische Schlagzeilen zur Vendée Globe sorgen können, als sie sich jeweils auf dem Podium platzierten. Nun schreibt Boris Herrmann ein deutsches Kapitel in dieser Geschichte. Nicht als Sieger und nicht auf dem Podium, aber als überraschender Part der Spitzengruppe in der spannendsten Vendée Globe aller Zeiten. Acht Segler erreichen innerhalb eines Tages das Ziel, das gab es noch nie. Und bis zu seiner Kollision hatte Herrmann noch Chancen auf einen Rang unter den Top-Drei. Das bringt ihn, bringt das Rennen in die nationalen Hauptnachrichtensendungen. Plötzlich findet der Segelsport, auch wenn es schließlich nur der fünfte Platz ist, wieder Beachtung in Deutschland, so wie seit 19 Jahren nicht mehr – seit die „Illbruck“ 2002 in Kiel das Volvo Ocean Race gewonnen hat.
Durch die mediale Hochachtung, die Anerkennung der Konkurrenten ist auch die Wehmut über die verpasste Podest-Chance schnell verflogen: „Es war ein glücklicher Tag, ich habe überhaupt nicht an die Kollision gedacht. Wenn überhaupt, dann hat mir die Kollision nur noch mehr bewusst gemacht, wie sehr ich diese Ankunft wollte, wie wichtig mir das ist. Diese Emotionen werden mich noch lange tragen und in mir bleiben“, erklärt Herrmann später in der Online-Pressekonferenz.
Was für ein Rennen! Was für Geschichten! Was für Typen! Über 50.000 Kilometer jagen die Teilnehmer seit 1989 alle vier Jahre durch alle Ozeane rund um den Globus. Gerade mal 88 Segler*innen haben in den ersten acht Auflagen das Ziel erreicht. Fast 100 Mal so viele Menschen waren auf dem Mount Everest, sechs Mal so viele im All. An der Vendée scheiterten 75 Starter auf dem Kurs, gar zwei blieben auf See. Rein nach Zahlen ist die neunte Vendée Globe daher ungewöhnlich ereignislos. 33 Yachten gehen am 9. November 2020 an den Start, lediglich ein Viertel wird wohl die Segel streichen müssen (zur Drucklegung dieser Ausgabe sind 12 Yachten im Ziel, 13 weitere noch auf Kurs).
Aber die Liste der Aufgaben ist spektakulär: Nicolas Troussel bricht acht Tage nach dem Start der Mast auf einem der jüngsten Boote der Flotte. Alex Thomson peitscht seine „Hugo Boss“ in einer frühen Rennphase mitten durch ein Sturmtief, stellt kurz darauf schwere Strukturschäden am Rumpf fest. Nach scheinbar erfolgreicher Reparatur stoppt ihn schließlich ein Ruderschaden nach einer Kollision mit einem unbekannten Objekt. In kurzer Folge steuern Anfang Dezember Sebastien Simon und Samantha Davies mit Schäden an den Foils bzw. dem Kiel Südafrika an. Eine Woche später kann auch Fabrice Amadeo nicht mehr: Sein Bordcomputer versagt den Dienst. Zäh wehrt sich die Deutsch-Französin Isabelle Joschke gegen ihr Ausscheiden. Bereits im Atlantik reißt ihr der Heckkorb ab. Sie flext, schraubt, klebt und bastelt sich einen Ersatz. Auch weitere kleinere Probleme können sie nicht aufhalten. Die 44-Jährige legt eine beeindruckende Aufholjagd im Southern Ocean hin. Doch bei der Passage von Kap Hoorn muckt die Kiel-Hydraulik. Eine erste Reparatur bringt nur kurz Linderung, bald ist das tonnenschwere Gewicht unter dem Rumpf nicht mehr zu kontrollieren. Joschke gibt auf, tastet sich noch vorsichtig bis nach Brasilien gen Norden. Als Letzter meldet schließlich Sebastien Destremeau mit einer längeren Mängelliste die Aufgabe.
Mit größtem Schaudern aber denken wohl alle Vendée-Fans an die Havarie von Kevin Escoffier zurück. Seine „PRB“, ein extremer Leichtbau, ist den Belastungen im Südpolarmeer nicht gewachsen. Südwestlich von Kapstadt setzt der Franzose am 30. November einen Notruf ab. Seine „PRB“ sinkt! Eine lächerliche Umschreibung des tatsächlichen Dramas. Innerhalb von Sekunden bricht die Yacht auseinander. Das Wasser schießt in den Rumpf. Escoffier kann gerade noch die Rettungsinsel über Bord werfen, seinen Überlebensanzug greifen und die auf Tiefe gehende Yacht verlassen.
Es ist eine besondere Spielart des Schicksals, dass Jean le Cam dem Havaristen am nächsten ist. Der 61-Jährige havarierte vor zwölf Jahren bei der Vendée Globe vor Kap Hoorn, wurde vom damaligen „PRB“-Skipper Vincent Riou gerettet. Nun kann le Cam sein Karma bereinigen. Er steuert den Unglücksort an, sichtet Escoffier, kommt aber nicht an ihn heran und verliert ihn wieder aus den Augen. Die Dunkelheit bricht ein, aber le Cam gibt nicht auf, sucht weiter. Dann ein Licht! Eine Halluzination? Nein, es ist die Rettungsinsel. Jean le Cam tastet sich näher, aber es ist eigentlich unmöglich, in stürmischer See und fünf Metern Welle den Kontakt zur tanzenden Rettungsinsel herzustellen. Fast ist er wieder an Escoffier vorbei. „Kommst Du noch mal wieder?“, soll der zitternd gefragt haben. „Nein!“, brüllt le Cam. „Wir machen es jetzt!“ Der Rettungsring fliegt hinüber, Escoffier kann ihn greifen und sich zu le Cam an Bord ziehen. Sechs Tage segeln beide als Duett, dann steigt der Havarist auf eine französische Fregatte über.
Der Veteran der Vendée, der Retter, den seine Landsleute ehrfurchtsvoll den König nennen, ist damit der wahre Held dieser Weltregatta. Ein Held ohne Allüren. Kurz nachdem er Kevin Escoffier abgesetzt hat, gerät Jean le Cam selbst in Not. Aber „Roi Jean“ klagt nicht, er meldet nicht mal die Probleme. Seine Yacht beginnt zu delaminieren, bekommt Risse, zieht Wasser. Jean le Cam klebt Carbon, dichtet ab, horcht auf jedes Knacken und Knarzen. Während der gesamten Passage des Southern Ocean fürchtet er um das Boot, um sein Leben. Er hofft, er bangt, und schließlich erreicht er als Achter das Ziel. In Les Sables d’Olonne wird er trotz Corona-Beschränkungen gefeiert. Jetzt werden auch die Yachtschäden der vergangenen Wochen publik und die Frage laut, warum er diese nicht gemeldet hat. Le Cam antwortet mit einem Achselzucken: „Es hätte mit ja sowieso keiner helfen können.“
Die Zeitgutschrift wegen seiner Rettungstat vor Kapstadt lässt le Cam sogar noch auf Rang vier, an Boris Herrmann vorbei, klettern. Der wettergegerbte Bretone kommentiert es auf schnoddrige Art und Weise, mit feixender Genugtuung gegenüber Damien Seguin, der damit auf Rang sieben abrutscht. „Der alte Sack liegt vor dem Behinderten.“ Der zweimalige Paralympicssieger Seguin, dem von Geburt an die linke Hand fehlt, lässt ihn gewähren. Aus gutem Grund: Beide sind enge Freunde, le Cam ist so etwas wie der sportliche Ziehvater von Seguin. Und der 41-Jährige nimmt sein Schicksal selbst auf die Schippe. Seinen Zieldurchgang feierte er im Piratenlook, inklusive Hakenhand.
Fast jeder Zieldurchgang wird groß gefeiert. Bei einem allerdings ist es nur verhaltene Freude. Ausgerechnet Charlie Dalin zündet keine Bengalos. Nach 80 Tagen, 6 Stunden, 15 Minuten und 47 Sekunden kreuzt er als Erster die Ziellinie. Doch der 36-Jährige weiß, dass das in dieser ungewöhnlichen Vendée Globe nicht zum Sieg reichen wird. Erstmals wird Platz eins über die Berechnung durch die Zeitgutschriften vergeben. Dalin trimmt sein Boot bis zum Zieldurchgang, verzieht sich dann unter Deck und muss erst durch sein Team, das das Boot vom Schlauchboot aus entert, nach draußen gezogen werden. Immerhin winkt er, und dann merkt man auch ihm an, dass der Druck der vergangenen Monate der Erleichterung weicht.
Rund acht Stunden nach Dalin beendet Yannick Bestaven seine Weltrunde. Es reicht, um mit der Zeitgutschrift von 10:15 Stunden wegen der Beteiligung an der Suche nach Escoffier auf Platz eins zu springen. Bestaven hat sich den Erfolg verdient. Mit einer Yacht der älteren Generation segelt er ein taktisch herausragendes Rennen im Southern Ocean, setzt sich deutlich vom Feld ab. Nur eine ausgedehnte Flaute im Südatlantik kann ihn bremsen und lässt die Konkurrenz vorbeiziehen – die Zeitgutschrift gleicht das Pech aus. Bestaven nimmt überglücklich die Trophäe entgegen, vergisst im Moment des Triumphes aber nicht Dalin und hebt ihn zumindest verbal mit auf den Siegerschild: „In dieser Vendée Globe gibt es zwei Gewinner.“
Inmitten dieser Dramen, Havarien und kühnen Taten nimmt Boris Herrmann die Rolle als Meister der Medien ein. Via Zoommeeting, WhatsApp und Videoüberspielungen nimmt er seine Fans mit an Bord, lässt sie teilhaben an seinem Seelenleben – an seiner mentalen Erschöpfung, als er für eine Reparatur in den Mast muss, an seinem Frust, als er einen Riss im Großsegel verursacht und reffen muss. Er telefoniert mit seiner Frau, Freunden und Journalisten, spielt mit Teddybären und grüßt aus dem Indischen Ozean im rot-weißen Weihnachtspulli. „Für mich war die PR-Arbeit willkommene Abwechslung, ein Highlight des Tages. Ein bis zwei Termine am Tag, außer in Sturmphasen, waren absolut okay. Für mich galt die Devise: Ich rede, also bin ich – das hat mir viel Kraft gegeben“, sagt Herrmann.
Und zum Finale sorgt auch der Deutsche noch für einen Schockmoment in dieser Regatta. 80 Tage hat sich seine zurückhaltende Rennstrategie, die Vermeidung von Schäden, um auf jeden Fall anzukommen, ausgezahlt. Den Atlantik hinauf spielte er schließlich das Potenzial seiner Yacht aus. Plötzlich ist der Hamburger mittendrin im Kampf ums Podium und greift an: „Alles war möglich, auch der Sieg. Ich habe ziemlich gepusht. Es herrschte eine flache Welle, perfekte Bedingungen für die ,Seaexplorer‘.“ Ein kurzer Powernapp soll Kraft geben für den Endspurt. Aber dann versagen die Alarmsysteme, der Fischtrawler taucht aus dem nebligen Dunkel auf.
Die Yacht knallt in das Stahlschiff, der Bugspriet knickt weg, eine Want bricht, der Steuerbord-Outrigger verheddert sich in den Fangwerkzeugen des spanischen Schiffes, der rechte Foil nimmt erheblichen Schaden. Aber nach einigen sorgenvollen Momenten kommt die „Seaexplorer“ frei. Der Soloskipper kann den Mast sichern und mit reduzierter Geschwindigkeit und ohne fremde Hilfe weiter. Das Podium ist weg, und doch wird Boris Herrmann im Ziel gefeiert.
Der 28. Januar ist einer der seltenen Momente in der Sportgeschichte, der aus Athleten Helden machen kann. Es gehört viel Glück dazu, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. Die Historie der Vendée Globe, die Dramen dieses Rennens, die Flaute an anderen Sportereignissen aufgrund der Corona-Pandemie: All das zahlt ein auf das Konto des neuen deutschen Segelhelden. Aber man muss auch durch die Tür gehen, die sich einem öffnet. Boris Herrmann hat die Chance ergriffen. Er steht im Vorhof der Ruhmeshalle.